Den Haag 1672: Man schnitt ihnen Zungen und Geschlechtsteile ab - WELT (2024)

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Der Überbringer des Briefes hätte Johan de Witt stutzig machen müssen. Bossy war die Tochter eines Gefängniswärters, die am Morgen des 20. August 1672 vor dem Haus de Witts erschien und einen Brief überreichte.

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Darin wurde Johan von seinem inhaftierten Bruder Cornelius aufgefordert, ihn umgehend aus dem Gevangenpoort, dem Gefängnis von Den Haag, abzuholen.

Obwohl Johans Familie der Umstand merkwürdig vorkam, dass kein Beamter, sondern eine Dienstmagd mit diesem heiklen Auftrag betraut worden war, machte sich der bis vor Kurzem noch mächtigste Mann der Republik der Niederlande umgehend auf den Weg.

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So begann ein weiterer schwarzer Tag im Jahr 1672, das als Rampaar (Katastrophenjahr) in die Geschichte der Niederlande eingegangen ist. Eine Armee Ludwigs XIV. von Frankreich hatte das Land überrannt. Im Heiligen Römischen Reich eroberte der Fürstbischof von Münster die niederländischen Besitzungen. Und auch England hatte der Republik den Krieg erklärt.

In dieser verzweifelten Situation kam es zum Machtwechsel. Johan de Witt, der als Ratspensionär der einflussreichsten Provinz Holland seit 1652 die Politik der Niederlande geleitet hatte, wurde gestürzt und Wilhelm III. von Oranien als Statthalter mit der Verteidigung des Landes beauftragt.

Zugleich wurde Johans Bruder Cornelis, der als Kommandeur der Flotte lange Zeit eine Schlüsselposition innegehabt hatte, verhaftet und mit dem Vorwurf, ein Attentat gegen Wilhelm geplant zu haben, vor Gericht gestellt: Vorspiel zu einem Massaker, das sich tief in die Erinnerung der Niederlande eingeprägt hat.

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Nach dem Westfälischen Frieden, der endgültig die Unabhängigkeit der Niederlande von Spanien festschrieb, hatten die Generalstände 1650 das Amt eines gemeinsamen Statthalters für alle sieben Provinzen kassiert, weil ihnen die Oranier zu machtbewusst erschienen. Als Söhne eines Patriziers aus Dordrecht waren die de Witts typische Parteigänger dieser städtischen Eliten, die antizentralistisch dachten und denen das quasimonarchische Auftreten der Statthalter schon lange ein Dorn im Auge gewesen war. Sie wollten endlich die Früchte des Friedens genießen.

Johan hatte in Leiden Rechtswissenschaften studiert und anschließend mit Cornelis Europa bereist. 1650 übernahm er als „Pensionär“ das wichtigste Amt seiner Heimatstadt Dordrecht, 1653 rückte er als Pensionär Hollands ins Zentrum der niederländischen Politik auf. Seine politische Frontstellung gegen die Oranier manifestierte ein geheimes Zusatzprotokoll zum Friedensvertrag von Westminster 1654, der den Ersten Englisch-Niederländischen Seekrieg beendete. Darin verpflichteten sich die Niederlande, nie mehr einen Oranier (die mit den schottischen Stuarts verbunden waren) zum Statthalter zu wählen.

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Auch im Zweiten Englisch-Niederländischen Seekrieg (1665–1667) konnten Johan und Cornelis als Oberbefehlshaber der Flotte die Machtstellung der Republik wahren, zumal in London die Pest und ein Großbrand wüteten. Doch dann trübte sich beider Zukunft ein. Johan hatte sich den Zorn Ludwigs XIV. zugezogen. Und in England verfolgte Stuart-König Karl II. eigene Pläne. Das Ergebnis war die Kriegserklärung von 1672. Der Vormarsch der französischen Truppen konnte schließlich nur durch das Öffnen der Deiche gestoppt werden. Doch das Überfluten des flachen Landes ruinierte die Ernten. Die Partei der Oranier machte gegen die Witts mobil.

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Am 21. Juni wurde ein Mordanschlag auf Johan verübt. Er überlebte zwar, war aber länger an das Bett gefesselt, sodass er die Berufung des 21-jährigen Oraniers Wilhelm (III.) zum Statthalter nicht verhindern konnte. Notgedrungen trat Johan zurück.

Die Heldengalerie der Oranier

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Dann wurde sein Bruder Cornelis Opfer einer Intrige. Willem Tichelaar, ein übel beleumundeter Barbier und Zuhälter, gab an, jener hätte ihm 30.000 Gulden für den Tod des neuen Statthalters geboten. Mit knapper Mehrheit stimmte der Staatsgerichtshof für eine Verhaftung. Doch selbst unter der Folter mochte Cornelis kein Geständnis ablegen. Da sich die Richter nicht einigen konnten, fällte Wilhelm III. schließlich das Urteil: Verbannung auf Lebenszeit.

Diese Nachricht samt der Aufforderung, alle offenen Formalien zu erledigen, enthielt das Schreiben, das Johan de Witt am 20. August erreichte. Dass es nicht aus offiziellen Quellen stammte, erkannten die beiden Brüder bald, nachdem sie sich im Gefängnis wiedergesehen hatten. Etwa zur gleichen Zeit kam Willem Tichelaar frei, dem man Falschaussage vorgeworfen hatte und der daher inhaftiert worden war. Nun machte er aus seiner Freilassung einen Beweis für die Schuld des Cornelis und entsprechend Stimmung. Die Menge, die sich inzwischen vor den Toren eingefunden hatte, zeigte sich zunehmend beeindruckt, zumal prominente Anhänger der Oranier Tichelaar ihre Sympathie bekundeten. Zugleich machte sich Unmut über die als zu gering empfundene Strafe für Cornelis breit.

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Dann spitzte sich die Lage zu. Als die Brüder nach Erledigung aller Formalitäten das Gevangenpoort verlassen wollten, erwartete sie schon eine wütende Menge, der sich auch Einheiten der Bürgerwache angeschlossen hatten. Die Witts zogen sich daraufhin ins Gefängnis zurück, zu dessen Schutz eine Abteilung regulärer Kavallerie abgestellt wurde. Weder die Delegierten der Generalstaaten, die in Hörweite tagten, noch Wilhelm III., der etwa 30 Kilometer bei Alphen im Feld stand, mochten sich zu einem stärkeren Engagement aufraffen.

Als gegen 16 Uhr das Gerücht die Runde machte, aufrührerische Bauern, die gegen die Nahrungsmittelknappheit protestierten, seien im Anmarsch, wurden die Truppen abgezogen. Derweil kursierte unter der Menge bereits der Alkohol, dem auch die Mitglieder der Bürgermilizen zusprachen. Sie stellten sich an die Spitze des Pöbels, der nun das Gefängnis stürmte. Pastoren sollen sich dabei als Wortführer betätigt haben.

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Die de Witts wurden mit Gewehrkolben, Piken und Messern traktiert. Man wollte sie zur Richtstätte im Freien bringen, doch erlagen sie bereits auf dem Weg dorthin den Misshandlungen. Johan starb durch einen Pistolenschuss. Dann verlor die Menge alle Hemmungen.

Die Leichen wurden auf das Schafott gezerrt und an den Füßen aufgehängt. Dann wurden Zungen, Arme, Finger, Nasen, Lippen, Geschlechtsteile abgeschnitten und die Körper ausgeweidet. Triumphierend wurden die Herzen dem Mob präsentiert und später noch ausgestellt. Einige Körperteile wurden verkauft. Sogar von Kannibalismus wird berichtet. Erst in der Nacht konnte die Familie die sterblichen Überreste sichern und in der Nieuwe Kerk begraben.

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Ob und inwieweit der Statthalter Wilhelm von Oranien in den Lynchmord eingebunden war, konnte bis heute nicht geklärt werden. Sicher ist, dass Mitglieder seiner Partei maßgeblichen Anteil daran hatten und dass diese später nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Tichelaar und andere wurden sogar mit Renten bedacht. Wilhelm selbst wurde die brutale Ermordung seiner politischen Gegner von den Zeitgenossen nachgesehen. 1689 erkannte ihn das englische Parlament im Zuge der „Glorious Revolution“ als König von England an.

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